Aus der Nachbarschaft
«Digital gibts mich nicht, das ist mega entspannend»
Brigitte Ulrich kann der Digitalisierung nichts abgewinnen – oder mindestens fast nichts. Denn: Wie findet frau in der heutigen Zeit einen Chor und einen Partner? Sie überlegt.
Just einen Tag nach dem Gespräch mit Brigitte Ulrich stands in der Zeitung: Die Armee hat den Zahlungsverkehr digitalisiert und übergibt den Sold nicht mehr in bar im Säckli, sondern überweist das Geld elektronisch. Sie wusste dies bereits, weil ihr 22-jähriger Sohn, ein Soldat, davon erzählt hatte.
Kein Bargeld mehr, kein Gefühl dafür, wie sich Banknoten und Münzen anfühlen? Ulrich sagt, die haptische Wahrnehmung von Geld sei von entscheidender Bedeutung, gerade für Kinder und Jugendliche, die den vernünftigen Umgang mit dem Mammon lernen sollten. Sie verleiht ihrer Meinung Nachdruck und greift mehrere Male nach imaginären Banknoten auf dem Tisch. Oft würden «in der ganzen Digitalisierungswelle» die Urbedürfnisse der Kinder vergessen: «Der immer noch zunehmende digitale Druck auf Kinder und Jugendliche bedroht immer mehr eine unbeschwerte, freie Kindheit.» Ihr Sohn ist übrigens eben ausgezogen – mit dem «gesamten digitalen Gschmäus».
Ulrich ist 58-jährig, war bis Anfang der 1990er-Jahre Krankenschwester, arbeitet heute als Nanny im Auftrag der Frauenzentrale Luzern – «Stundenabrechnung über die normalen Durchschlagblätter» – und haust allein in einer gemütlich eingerichteten Wohnung in der Stadt Luzern. Sie ist abl-Genossenschafterin – das magazin liegt auf dem Stubentischchen – und lebt «aus verschiedenen Gründen analog», wie sie die abl mittels Postkarte wissen liess. Ein schwarzes, altes Telefon mit dem Hörer auf der Gabel und einer Wählscheibe zeugen davon. Angeschlossen ist es indessen nicht: Technisch veraltet, dient es als Dekorationsstück.
Gut informiert auch ohne Internet
Sie spricht in druckreifen Sätzen, ist agil, gepaart mit einer Prise Eigenwilligkeit und bestimmt kein weltfremder «Anti-Nerd». Die Frau passt in kein Klischee und äussert deutlich ihre Meinung. Ulrich weiss Bescheid und Begriffe wie «Cloud», «Tracking» und «Chats» benutzt sie in einer Selbstverständlichkeit, dass sich die Frage immer mehr aufdrängt, weswegen sie noch immer analog unterwegs ist. Mit einer Ausnahme übrigens: Wegen des Jobs hat sie ein in die Jahre gekommenes Handy – kein Smartphone –, damit sie unterwegs telefonieren sowie SMS empfangen und schreiben kann.
Ihr Bruder ist Journalist bei Radio SRF, was Ulrich beiläufig erwähnt, wenn sie davon spricht, wie sie sich über das Zeitgeschehen informiert, wenn nicht übers World Wide Web, entsprechende Websites und Apps. Sie hört Radio, liest Zeitung und schaut fern, vorzugsweise SRF, regionale Stationen und arte. Letztgenannter Fernsehsender sei «fantastisch». Sie verdreht die Augen, wenn sie sich daran erinnert, wie ihr Sohn «ständig am Gamen» war. Nun ja, vielleicht schaut er dereinst auch arte.
Im Familien-Chat aussen vor
Den Beruf als Krankenschwester – heute Pflegefachfrau genannt – hängte sie an den Nagel, weil ihr die Schichtarbeit mit ständig wechselnden Einsätzen zu sehr zu schaffen machte. Reduziert formuliert: zu viel Hektik, zu viel Stress. Das hält Ulrich auch davon ab, sich der Digitalisierung zuzuwenden und die Vorteile zu nutzen. «Ich habe einen Festnetzanschluss mit einem Anrufbeantworter.» Das funktioniere bestens und reiche ihr vollauf – noch, aber davon später mehr. Auf die Schreibende zeigend, sagt sie lächelnd: «Das hat ja auch mit uns bestens geklappt.» Hat es, keine Frage.
Mit ihrer Haltung, sich so lange wie möglich der digitalen Welt zu verschliessen, und ihrem ausgeprägten Desinteresse an Technik eckt Ulrich selbstredend an, sorgt für Ärger und Unverständnis. Bis sich ihre Familie damit arrangiert hatte und auf andere Kommunikationskanäle auswich, dauerte es eine Weile. Im Familien-Chat tummeln sich neun Personen, mit ihr wären es zehn. Sie ist draussen, was zwischenzeitlich respektiert wird, aber wohl nicht von allen tatsächlich verstanden.
Sie sagt: «Ich geniesse die Ruhe total. Ich kann nur meine Post im Briefkasten holen und habe keinen Social-Media-Stress. Meine Familie hat unterdessen auch gecheckt, dass sie mich ab und zu anrufen muss.». Dass sie digital inexistent ist, sei «mega entspannend». «Jedes Mittagessen, das fotografiert und gepostet wird, interessiert mich einfach nicht.»
Jassen, singen, leben und lieben
Ulrich jasst und singt in ihrer Freizeit gerne. Jassrunden lassen sich im Vierergrüppchen auch ohne Chatrooms einfach organisieren. Beim Singen wirds schon ein wenig schwieriger: «Ich möchte gerne wieder im Chor meiner Wahl singen. Aber wenn die gesamte Kommunikation per E-Mail erfolgt, funktioniert das für mich nicht.» Notenblätter zur Vorbereitung der nächsten Probe? Fehlanzeige. Die Partituren wären als PDF angehängt, müssen heruntergeladen und allenfalls ausgedruckt werden. Sie ist draussen, wie beim Familien-Chat, mit dem Unterschied, dass die Chorleitung keine Rücksicht auf das potenzielle Chormitglied nehmen mag.
Die Frau fächert für sich die Vor- und Nachteile der Digitalisierung auf. E-Banking käme für sie beispielsweise nie infrage, weil sie ihre Daten in Gefahr sähe. Sie ist sich indessen im Klaren, dass sie auch wegen des fortschreitenden Alters nicht immer und ewig auf digitale Angebote und Dienstleistungen verzichten kann und will. Denn da ist noch dies, und das würde Ulrich womöglich den Sprung ins Digitale wagen lassen: Sie wünscht sich nach vielen Jahren des Alleinseins wieder einen Partner: «Das funktioniert heutzutage ohne die Registrierung auf einer Dating-Plattform leider kaum.»