Aus der Nachbarschaft

Knallige Banner ohne Aussagen werfen Fragen auf

Der Künstler Niklaus Lenherr zeigt seine Entwürfe.

An Luzerner Balkonen hängen seit einer Weile rätselhafte, bunte Plastikblachen – ohne ­Botschaft und Erklärung. Im Innenhof der abl-Siedlung Himmelrich 3 haben sie sich nun zur Ausstellung formiert. Der Künstler Niklaus Lenherr klärt auf. 

Auf einmal hängen farbige Rechtecke an Balkongeländern. Sorgfältig verschachtelte, aufgereihte, ineinandergreifende geometrische Formen in satten Farben: Grün, Rot, Orange, Gelb, Blau. Sind das Farbmuster? Fahnen für eine Kampagne? Doch für welche? Oder vielmehr eine Flagge für ein noch unbekanntes Land? Haben die Banner eine Funktion? Einen Zweck? Oder sind sie einfach Dekoration?
Es war Pandemie-Zeit – das öffentliche Leben heruntergefahren und alle zu Hause – als die eigenartigen Banner im Innenhof des Himmelrich 3 und auf weiteren Balkonen in Luzern erstmals auftauchten. Das Timing war kein Zufall und die Ratlosigkeit beabsichtigt. Die vielen Fragezeichen amüsieren Niklaus Lenherr.
Der Künstler arbeitet mit dem Schalk und der Neugier der Leute. Die bunten Banner sind Teil seines Kunstprojekts «Farb-Flächen Covid_2021», das im Zuge der Pandemie entstanden ist. Es passt, dass nun mit der Normalisierungsphase 24 solcher Banner eine Freilichtausstellung bilden. Bis Ende April ist sie im Innenhof der Himmelrich-3-Siedlung zu sehen.

Plädoyer für die Fröhlichkeit
Doch von vorne: Als im Frühling 2020 die Coronakrise ihren Anfang nahm, zog sich Niklaus Lenherr in ein Maiensäss zurück. Dort, auf 1500 Metern über Meer, entwarf er erste Skizzen mit Farbstiften, schraffierte Miniaturen der heutigen 120 auf 70 Zentimeter grossen Banner. Er blickt zurück: «Der erste Lockdown ging noch spurlos an mir vorüber, aber mit der Zeit setzte mir die Situation zu. Es war deprimierend, niemanden mehr zu sehen.» Dem selbstständigen Künstler brachen die Einnahmen weg, das Kulturleben stand still.
Niklaus Lenherr brauchte ein neues Projekt. Das im Maiensäss angedachte Vorhaben liess ihn nicht mehr los – und zurück in Luzern wurde es konkret: Farbe in die Welt hineinbringen! Mit dem befreundeten Grafiker Mondo Messmer arbeitete er die Handskizzen am Computer zu den sorgfältigen geometrischen Arrangements aus und liess sie schliesslich auf Blachen drucken. Die erste hing an seinem eigenen Balkon im Himmelrich 3. Danach fing er an, sie unter die Leute zu bringen, und so tauchten die Plakate an immer mehr Fassaden und Balkonen auf. «Die Banner werben für nichts und sie stehen für nichts – ausser für die Fröhlichkeit», sagt Lenherr. Sie haben einen denkbar einfachen Zweck: «Sie bringen Farbe in den Alltag.» Sie buhlen um unsere Aufmerksamkeit, aber die passende Aussage müssen wir uns dazu denken.

Die Gedanken sind frei, die Assoziationen zahlreich: Buntes an den Balkonen im Innenhof der Himmelrich-3-Siedlung.

«Banksy der Baustelle»
Schliesslich kam Niklaus Lenherr die Idee einer Ausstellung im Innenhof der Siedlung. Bei der abl stiess das temporäre Kunstprojekt auf Interesse, aber der Künstler musste sich gedulden. Er rekrutierte interessierte Bewohnerinnen und Bewohner, die ein Banner an ihren Balkon hängen lassen wollten, vergangenen Januar bekam er grünes Licht und seit Ende Februar ist die Ausstellung aufgebaut. «Mit Motivation und etwas Geduld ist es möglich, hier etwas zu veranstalten», sagt Lenherr zufrieden. 
Seine Banner hängen an den Geländern in direkter Nachbarschaft zu ebenso bunten Geburtstafeln oder Fahnen, die für die Ehe für alle warben. So ergeben sich interessante Begegnungen. Wie viel davon ist Zufall und wie viel von Hand geplant? Man lässt die Frage gern unbeantwortet.
Er sieht seine Aktion auch als Kommunikations- und Austauschprojekt: So lernte er neue Leute kennen, tauschte sich aus und ging für die Montage persönlich vorbei: «Ich geniesse Gastrecht und komme mit neuen Leuten in der Nachbarschaft ins Gespräch.» Er hofft, dass die «bunte Arena» als Inspiration für weitere Siedlungen oder Innenhöfe dienen könnte. Wieso nicht die Balkone öfter für Kunst- oder Kulturprojekte nutzen? Etwa ein Chorprojekt als «akustisches Ereignis»?
Kunst in der Öffentlichkeit ist ein Risiko: So mussten einzelne seiner Banner an Luzerner Balkonen auf Wunsch der Hausbesitzer entfernt werden, weil sie angeblich «das Haus verschandelten». Lenherr lacht darüber. «Andere dachten, es handelt sich um aufgehängte Farbmuster, weil die Fassade neu gestrichen wird.»

Wer will eine Blache?

Die Ausstellung im Innenhof des Himmelrich 3 läuft noch offiziell bis Ende April 2022. Die Banner können beim Künstler gekauft (für 1700 Franken) oder gemietet werden (zwei Monate für 200 Franken inklusive Montage). Mehr zum Projekt auf der Website von Niklaus Lenherr: niklaus-lenherr.ch. Mehr über Niklaus Lenherrs Banner und Baustellenkunst im Kunstmagazin «_957»; Infos unter 957.ch

Er sieht seine Kunst im Geiste der Street Art – sie lebt vom Kontext des Alltäglichen, von der Auseinandersetzung in der «freien Wildbahn» und den fragenden Gesichtern der Passantinnen und Betrachter. Das Irritationsmoment, die Neugier und der temporäre Charakter gehören dazu.
Viele spazieren unwissend an Werken des Künstlers vorbei. Lenherr ist Baustellenfan und als solcher lässt er sichs nicht nehmen, seine künstlerischen Interventionen auch dort zu platzieren. «Banksy der Baustelle» wird Lenherr in der neuen Ausgabe des Luzerner Kunstmagazins «_957» in einem Text genannt.

Wirkung auch im Kunstmuseum
Von seiner Wohn- und Wirkungsstätte an der Claridenstrasse blickt er seit zwei Jahren direkt auf eine Baustelle. Seit einer Weile hängt eine recht auffällige orange-blaue Rolle Plastikzaun an einer Ecke der Bauabschrankung. Eines Mittags montierte er das Stück – und amüsiert sich seither darüber, dass es bis heute unbemerkt blieb. Oder zumindest niemanden stört. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand fragt: «Ist das Kunst oder kann das weg?»
Seine bunten Banner indes schafften den Sprung von der Strasse in die heiligen Hallen – von der Anonymität in den kuratierten Ausstellungsraum: Vier Stück davon waren Teil der Jahresausstellung «Zentral!» im Kunstmuseum Luzern und entfalteten auch dort ihre farbenfrohe und rätselhafte Wirkung. 
Für die Ausstellung im Innenhof des Himmelrich 3 ist keine offizielle Vernissage oder Finissage vorgesehen. So plötzlich wie die Banner aufgetaucht sind, werden sie eines Tages verschwinden. Es lohnt sich aber, weiter die Augen offen zu halten. Und bei der nächsten Baustelle innezuhalten und sich zu fragen: Entdecke ich hier einen Lenherr?